Es ist wohl nicht abwegig anzunehmen, das Selfie sei die verbreitetste Art der Fotografie. Milliarden Portraits, die täglich, stündlich, …? entstehen. Was zeigen sie? Den Fotografen. Zeigen sie ihn natürlich, real? Oder verkleidet, inszeniert, zusammen mit wichtigen Leuten, vor spektakulärer Kulisse? Was verraten inszenierte Bilder über den Dargestellten? Nichts oder besonders viel? Ist das inszenierte Bild am Ende «wahrer» als das naturalistische?
Es ist vielleicht überraschend, vielleicht aber auch bezeichnend,
dass dieselben Fragen auch auf historische Portraits angewendet werden können.
Die Plastiken antiker Gelehrter und römischer Feldherren dürften stark
idealisiert sein – wichtig war, durch würdiges Aussehen einen würdigen
Charakter darzustellen. Insignien individualisierten die Dargestellten – wie im
Mittelalter jeder Heilige an seinem Attribut erkenntlich ist. Erst Humanismus
und Renaissance verhalfen dem Portrait, das die natürlichen Züge eines Menschen
darstellt, zum Durchbruch. Und obwohl ein Dürer oder Raffael natürlich ein
naturalistisches Portrait erstellen konnten, blieb die hohe Aufgabe des
Portraits noch bis ins 19. Jahrhundert, das Individuelle mit dem Idealistischen
zu verbinden, um so das wahre Wesen einer Person, das weit über das fotografische
Abbild hinausgeht, darzustellen.
Magie des Bildes kennen wir (vielleicht noch) aus Kulturen,
wo früher das Fotografieren nicht geschätzt wurde. Magie des Bildes kennen wir
von Heiligenbildern und vom Kruzifix. Auch Herrscherbilder konnten eine eigene
Wirksamkeit innehaben, man denke an die Statue Karls des Grossen in Müstair –
oder auch nur an den Gesslerhut. Aus österreichischen Filmen ist das
Kaiserporträt in jeder Amtsstube gegenwärtig. Im 18. Jahrhundert galt es,
Herrscherbildern dieselbe Referenz zu erweisen wie dessen Person selber.
Und die Familienportraits, wie sie in Schloss Grünenstein
hängen? Wie viel Individualismus und Idealismus steckt wohl in ihnen? Gibt es
Insignien zu entdecken – einen Ring, ein Wappen, ein Buch…? Und was bedeuteten
sie den Zeitgenossen, den Nachkommen? Bloss ein «Fotoalbum» oder doch
ein Zusammenleben mit den Vorfahren, ein sich Versichern des Aufgehoben-Seins
in der Deszendenz der Familie? Boten sie die Möglichkeit, ohne unsere heutigen
Kommunikationsmittel einem Freund emotional nahe zu sein, oder zu einem Idol
eine Beziehung aufzubauen? Wir wissen, wie sehnlich sich der Trogner Philosoph
Laurenz Zellweger ein Portrait des von ihm verehrten Preussenkönigs Friedrich
II. ersehnte, und wie er sich freute, als er eines erhielt – als Kopie einer
Kopie.
Schloss Grünenstein ist in der glücklichen Lage,
zweihundertjährige Familienbande bis in die Gegenwart zu besitzen. Man spürt
das dem Schloss auch an. Ein Haus braucht Bewohner, die zu ihm schauen, aber zu
einer besonderen Aura tragen auch die früheren Bewohner bei. Mit allen Spuren
am und im Gebäude, die sie hinterlassen haben. Wenn sie wie in Grünenstein auch
noch bildlich da sind, wird ein soziales Netzwerk in die Vergangenheit sichtbar,
Facebook in Öl.
Moritz Flury-Rova, Trogen